Wer ist Said Nursi?

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Bediüzzaman Said Nursi wurde 1878 in der Osttürkei geboren und starb 1960 im Alter von 82 Jahren nach einem Leben beispielhaften Strebens und Selbstaufopferung für den Dienst im Islam. Er war ein Gelehrter von hohem Ansehen, der nicht nur die klassischen Wissenschaften der madrasah [¹], sondern auch die modernen Wissenschaften studierte. Aufgrund seiner herausragenden Fähigkeiten und umfangreichen Wissens wurde ihm von seinen Lehrern schon in jungen Jahren der Beiname Bediüzzaman (eine Person Sui generis im Sinne Einzigartiger und Außergewöhnlicher seiner Zeit) verliehen.

Nursi studierte die klassischen islamischen Wissenschaften u.a. wie Logik, Rhetorik, Syntax, Morphologie, Tafsir, Hadith sowie Geschichte und wurde zu einem brillanten Exegeten und Kommentator des Koran. Für die Anforderungen und Probleme der Moderne zeigte er die Wichtigkeit und Notwendigkeit dieser Wissenschaften auf. Seine theologischen Überlegungen inspirieren heute noch eine ganze Generation von Muslimen auf der ganzen Welt [²].

Bediüzzamans Lebensspanne erstreckte sich über die letzten Jahrzehnte des Osmanischen Kalifats und des Reiches, seinen Zusammenbruch und seine https://i0.wp.com/saidnursistiftung.de/wp-content/uploads/Nursi-und-seine-Werke.png?ssl=1Zerteilung nach dem Ersten Weltkrieg. Nach der Gründung der Türkischen Republik, bestand zunächst fünfundzwanzig Jahre eine repressive Einparteienherrschaft. Darauf folgte eine zehnjährige demokratische Führung, in der erstmal die Lebensumstände für Nursi einfacher wurden.

Seine Bemühungen und sein aktives Engagement im Dienste des Glaubens waren bis in die Jahre nach dem Ersten Weltkrieg der Öffentlichkeit bekannt. Er unterrichtete nicht nur Studenten, sondern führte auch viele Debatten und Diskussionen mit führenden Wissenschaftlern aus der ganzen islamischen Welt. Ferner führte er 1914 bis zu seiner Gefangenschaft für fast zwei Jahre persönlich ein Freiwilligenregiment gegen die in die Osttürkei einfallenden Russen an. In den Jahren, in denen der Übergang vom Osmanischen Reich zur Türkischen Republik stattfand, erfolgte der Wandel laut Nursi vom „alten Said“ zum „neuen Said“. Der „neue Said“ war gekennzeichnet durch seinen Rückzug aus dem öffentlichen Leben und die Konzentration auf Studium, Gebet und Kontemplation.

Ibrahim M. Abu-Rabi erwähnt in seinem Vorwort zum Buch „Islam in modern Turkey: an intellectual biography of Bediüzzaman Said Nursi“ von Şükran Vahide, dass über die Gedanken moderner Islamdenker wie Gamal ad-Din al-Afgani (1838-1897), Sir Ahmad Han (1817-1898), Muhammad ʿAbduh (1849-1905), Rasid Rida (1865-1935), Muhammad Iqbal (1877-1938) und anderen führenden muslimischen Gelehrten in westlichen Sprachen reichlich Literatur vorhanden ist. Er führt weiter aus, dass es höchste Zeit ist, dass auch Said Nursi zu diesen geistlichen Persönlichkeiten zählt und als einer der wichtigsten von ihnen gesehen werden sollte. Des Weiteren ist er der Meinung, dass in der intellektuellen Biografie des Bediüzzaman Said Nursi verdeutlicht wird warum Nursi solch eine Position im Denken und in der Praxis der islamischen Moderne verdient. Wolf D. Aries fügt im Vorwort der deutschen Ausgabe dieses Buches hinzu: „Said Nursis Beitrag zum Diskurs der Moderne aus gläubiger Reflektion wurde lange übersehen“. Auch Professsor Ahmed Akgündüz ist der Auffassung, dass die wissenschaftliche Persönlichkeit von Bediüzzaman Said Nursi selbst in der Türkei insbesondere unter Wissenschaftlern nicht ausreichend gewürdigt wird [³].

Dabei stand Nursis islamisches Denken, wie es sich in seinen postosmanischen Schriften kristallisierte grundsätzlich im Widerspruch zu dem vieler islamischer Denker jener Zeit. Zeitgenossen wie Mawdudi, Hassan Banna oder Sayyid Qutub befürworteten auf die eine oder andere Weise die Installierung einer politischen Autorität respektive Systems für die Widerbelebung des Islams. Doch Nursi widersetze sich einer politischen bzw. ideologischen Vereinnahmung des Glaubens [].

Interessant ist hier die Überlegung, ob die religiöse Praxis auch in einem säkularen System ausgeübt und bewahrt werden kann. Mit anderen Worten, brauchen wir ein islamisches Staatssystem, um den islamischen Glauben zu leben oder zu praktizieren? Nursi verneint dies und erwähnt, dass gläubige Muslime auch innerhalb eines säkularen Systems aufgrund der ihnen gewährten Religionsfreiheit ihren Glauben ausleben können; der Islam ist von einem politischen System nicht abgängig und verwehrt sich jeder Art der Instrumentalisierung politischer Ideologien [].

Eines von Nursis Hauptanliegen war es, die islamische Ethik in einer stark säkularisierten Welt wiederzubeleben. Aus tiefster Überzeugung glaubte Nursi, dass es möglich ist, dass die islamisch-ethischen Werte mit dem modernen Leben koexistieren und dass Muslime ihren Glauben ohne Rückgriff auf politische Autorität ausüben können [].

Nursi forderte eine Reformierung des osmanischen Bildungssystems. Er hatte verstanden, dass die ethischen Werte und Traditionen der Bevölkerung nicht mit der Entwicklung der positiven Wissenschaften parallel verliefen und mithalten konnten. Seine Bedenken waren, dass die Folge dieser Leere sich zu einer Identitäts- und Glaubenskrise entfalten würde. Denn es herrschte in der Bevölkerung ein ‚Tauziehen‘ zwischen der Säkularisierung, Verwestlichung, dem Laizismus und der Treue bzw. Streben zur religiösen Tradition [].

[¹] Die Madrasah ist ein Lernort für das Studium der klassisch islamischen Wissenschaften.
[²] Vgl. M. Abu-Rabi: Introduction, in: Vahide: Islam in modern Turkey (2005), S. xiii.
[³] Vgl. Akgündüz: Arşiv Belgeleri ışığında Bediüzzaman (2013), S. 294.
[] Vgl. M. Abu-Rabi: Introduction, in: Vahide: Islam in modern Turkey (2005), S. xv.
[] Vgl. ebd. S. xvi.
[] Vgl. ebd. S. xv.
[] Vgl. Nursi: Tarihçe-i Hayat (2006), S. 793.; Nursi: Biografie (o. J.), S. 912.